Meine Erinnerungen

Schon seit einiger Zeit trage ich mich mit dem Gedanken, meine Erlebnisse in den Jahren 1939–1945 und der ersten Zeit danach für meine Enkel, Neffen und Nichten aufzuschreiben. In einem Gespräch ermutigte mich Frau Blume und bot mir ihre Hilfe an. Das tat sie dann mit ganzem Herzen: sie recherchierte zusätzlich zu meinen Erzählungen im Internet, fügte eigene Fotos bei, stellte den Stammbaum zusammen und gestaltete das Ganze. Ohne ihre Hilfe hätte ich das nicht geschafft. Nun hoffe ich, dass jemand diese deutsche Version noch ins Hebräische überträgt.

 

 

[Der Name der Zeitzeugin ist anonymisiert]

 

 

Unsere Familie wohnte in Sosnovitz. Das liegt im Süden Polens, in der Nähe von Gleiwitz und Beuthen, man konnte mit der Straßenbahn dorthin fahren. In der Stadt lebten fast 30.000 Juden, das waren 22% der Bevölkerung. Die Gegend hieß Zaglebie, sie war das polnische Ruhrgebiet mit Kohlebergbau und Schwerindustrie. Dort wurde ich am 1. März 1921 geboren.

Leon Zwi und Chaja Bluma Katz, meine Eltern (um 1938)

Mein Vater, Leon Zwi Katz, arbeitete in einer deutsch/polnischen Firma, die dem deutschen Baron von Lamprecht gehörte, der im 1. Weltkrieg Offizier gewesen war. Mein Vater kümmerte sich als Verwalter um seine Fabriken, Häuser und die Gärtnerei.

Im Sommer 1939 war meine Mutter, Chaja Bluma Katz, geborene Genzel, zur Kur in Krienicza. Mein Bruder Jitzchak sollte im folgenden Jahr Abitur machen. Als der 2. Weltkrieg am 1. September 1939 ausbrach, war er in einem jüdischen Ferienlager. Jitzchak war Zionist. Ich war damals 18 Jahre alt und besuchte die Berufsschule. In den Ferien fuhr ich immer zu meinen väterlichen Großeltern Perla und Josef Katz, die eine Mühle in Dzialoszyce hatten. Dort verlebte ich die schönste Zeit meiner Kindheit und Jugend.

In den ersten Kriegstagen kamen meine Mutter und meine Geschwister auch zu den Großeltern. Als deutsche Soldaten mit Motorrädern nach Dzailoszyce kamen, rasteten sie an einem Brunnen vor dem Haus unseres Onkels Chaba, in dem meine Schwester Fela und ich uns aufhielten. Wir beobachteten aus dem Fenster hinter dem Vorhang, wie sie den polnischen Kindern Süßigkeiten schenkten, aber wir hatten große Angst.

Mein Vater war allein in Sosnovitz geblieben. Dort wurden schon am 4. September 13 Juden getötet – einer von ihnen, Bolek Prischinowski, war der beste Freund meines Bruders.

Die große Synagoge an der Dekertstraße wurde eine Woche später in Brand gesetzt.

Jitzchak  -   Fela  -  ich

Meine Schwester Fela und ich waren mit weiteren Verwandten noch monatelang bei den Großeltern. Weil es für alle zu eng war, wollten wir nach Hause zu den Eltern. Für die Heimfahrt hatten wir Silvester gewählt in der Hoffnung, die Grenzkontrollen wären an diesem Tag nicht so genau. Dzialoszyce lag nämlich im damaligen Generalgouvernement, Sosnovitz im damaligen Deutschen Reich. Wir wurden aber angehalten und mussten den Zug verlassen, weil wir jüdisch waren und nicht die notwendigen Dokumente hatten. Als wir in der kleinen Grenzstadt Wolbrom ausstiegen, erinnerten wir uns an eine Cousine unserer Mutter, die in dieser Gegend wohnte, von der wir aber nur den Vornamen Mala wussten, und dass sie einen Stoffladen hatte. Als wir das gegenüber den Gepäckträgern erwähnten, brachten die uns zu ihr.

Von Mala erfuhren wir zu unserer großen Überraschung, dass unser Bruder und seine Freundin Rosa am Tag vor unserer Ankunft, nach der Ermordung seines Freundes Bolek, überstürzt aus Sosnovitz in Richtung Russland geflohen waren, und im Haus von Mala übernachtet hatten. Einige Tage später brachte uns, nach Bemühungen unserer Verwandten, ein Schmuggler über die Grenze. So kamen wir froh zu unseren Eltern zurück. Als Erstes sagte ich unserer Mutter, dass es bei der Großmutter sehr oft Lokschen mit Joach (Nudelsuppe mit Geflügelklein) gegeben hat und ich das nie wieder essen will.

Josef Josek Bezalel und ich vor der Hochzeit 1940

Ab Februar 1940 mussten alle Juden am linken Arm eine weiße Binde mit einem blauen Magen David tragen. Ich kannte damals schon Josef F., meinen zukünftigen Mann. Mein Vater hatte gehört, dass Ledige zu Zwangsarbeit oder in Lager gebracht wurden, Ehepaare aber nicht. Deshalb drängte er darauf, dass wir schnell heirateten, obwohl mein Mann seine Ausbildung noch nicht abgeschlossen hatte. Vater sorgte dafür, dass er in der Druckerei von Bekannten beschäftigt wurde, um unabkömmlich zu sein. Am 25. September 1940 heirateten wir. Josefs Familie war fromm. Sie organisierten mit ihrem Rebbe eine große chassidische Chassene (Hochzeit) für uns. Nachbarn stellten sogar ihre Räume für die vielen Gäste zur Verfügung. Durch Beziehungen meines Vaters konnten wir Jungen später in der repräsentativen Wohnung der damals schon emigrierten Familie Rothschild weiter feiern. Herr Schepan, ein Freund meines Vaters, spielte für uns auf dem Klavier Tanzmusik. Es war ein herrliches Fest - als ob es keinen Krieg gäbe.

Von da an arbeitete mein Mann auch bei Baron von Lamprecht. Der hatte zusammen mit seiner Schwester, Frau Nordmann, die Firma „Express“ gegründet, in der sie nur Juden, ca. 30–40 Personen, beschäftigten, um sie vor den Nazis zu schützen. In dieser Firma wurden kriegswichtige Sachen hergestellt, wie Ledertaschen, Rucksäcke etc., die an die Armee verkauft wurden. In Polen gibt es ein Buch über das Schicksal der Juden unserer Gegend Zaglebie. In dem Buch wird auch diese Firma „Express“ erwähnt. Die Juden hatten großes Vertrauen zu Herrn Lamprecht. Als sie Geld, Schmuck, Pelze und Wertsachen abgeben mussten, lagerten die Wohlhabenden ihre Sachen in seinen leerstehenden Lagerräumen ein. Mein Vater half dabei, indem er bei Baron Lamprecht ein gutes Wort für sie einlegte. - Wir hatten eine Dienstwohnung in einem Stadtteil, in dem nicht viele Juden wohnten. In diesem Haus waren wir die einzige jüdische Familie.

Nach dem Überfall der Nazis auf Polen gab Mosche „Monjek“ Merin (geb. 1906) sich ihnen gegenüber als Repräsentant der Juden von Sosnovitz aus und wurde im Januar 1940 zum Ältesten des Judenrats im Judenrat Ghetto Sosnovitz ernannt. Dieser war auch für alle ca. 100.000 Juden in Oberschlesien zuständig. Merin richtete sein Büro im Haus des Radomsker Rebben ein und benützte die jüdische Polizei, um die Juden der ganzen Gegend Zaglebie zur Zwangsarbeit für die Nazis zu rekrutieren. Er verglich die Arbeit mit zukünftigen Kibbuzim in Palästina und behauptete, die Menschen dadurch vor der Deportation zu bewahren. Die Zwangsarbeiter mussten Rüstungsbetriebe und Textilfabriken errichten. - Merin’s Sekretärin, Franya „Fani“ Czarna, kannte ich schon als Kind. Sie stammte aus der wohlhabenden Familie Lubelska. Es war etwas ganz Besonderes für mich, als sie mich einmal in ihr Haus zu Kakao und Süßigkeiten einluden.

Als Merin im Mai 1942 zustimmte, dass ein Teil der örtlichen Juden in Todeslager deportiert wurde, verurteilte der Sosnovitzer Rabbiner das als höchst unmoralisch, solche Entscheidungen solle er den Nazis überlassen. Daraufhin schloss Merin den Rabbi von allen Beratungen aus und verbot öffentliche religiöse Aktivitäten. Doch trotz seiner Kooperation verhaftete die Gestapo Merin und seine engsten Mitarbeiter, darunter auch Franya Czarna, am 19. Juni 1943 und tötete auch sie in Auschwitz.

1940 bestimmten die Deutschen Bereiche in der Stadt, die die Juden nicht betreten durften und sie richteten ein Durchgangslager in einer ehemaligen Schule in der Skladowastraße ein. Als mein Mann einmal die Straßenbahn in einem verbotenen Stadtteil verlassen hatte, wurde er bei einer Razzia gefasst, zur Vernehmung dorthin gebracht und zu einigen Monaten Gefängnis verurteilt.

Schon bald bildeten sich jüdische Widerstandsgruppen gegen die Nazis und gegen Merin‘s Judenrat, wie die Jugendorganisationen „Ha Noar Ziyyoni“, „Gordonia“ und „Schomer Ha Zair“. Meine Schwester Fela war bei „Schomer Ha Zair“. Der Führer dieser Gruppe, Zwi Dunski war ihr erster Freund.

Fela berichtete nach 1945 bei Yad Vashem über ihn und „Schomer Ha Zair“:

Zwi Dunski wurde am 20. Mai 1922 in Sosnovitz in eine arme Familie geboren. Sein Vater arbeitete hart als Schuhmacher, um die Familie zu ernähren und den Kindern eine Erziehung zu geben. Zwi studierte nach der Volksschule an der Handelsschule. Im Alter von 15 Jahren schloss er sich „Schomer Ha Zair“ an, wo er sehr beliebt war und in kurzer Zeit Leiter der Bewegung wurde. Wegen des Kriegsbeginns 1939 musste er seine Ausbildung unterbrechen und widmete seine ganze Zeit der Organisation. 1940 wurde die illegal. Viele Mitglieder bekamen Angst vor Merin’s Judenrat und der jüdischen Polizei. Zwi Dunski beriet mit einer Gruppe seiner engsten Mitarbeiter, wie Kalman Tencer, Lipec Minc, Zwi Zilserson, Samuel Rosenzweig, Ina Gelbardt, Hela (Kasia) Szancer und Fela Katz, der Schreiberin dieses Berichts, über die Möglichkeit, junge jüdische Menschen vor der Ausrottung zu retten. Sie überlegten, ob es besser sei, freiwillig in die Arbeitslager zu gehen oder gegen sie zu agitieren. 1941 forderte der Judenrat alle jungen Juden zur freiwilligen Arbeit in den Arbeitslagern auf. Zwi Dunski und seine Leute hatten sich dagegen entschieden, weil die Menschen in den Fabriken für die deutsche Wehrmacht arbeiten und so die Deutschen dabei unterstützen würden, den Krieg zu gewinnen. So begann ein offener Kampf gegen den Judenrat.

Im Mai 1942 starb Kalman Tencer, ein Mitglied der Gruppe. Alle jungen Leute nahmen an seiner Beerdigung teil. Als einige anschließend noch über die beginnenden Deportationen sprachen, tauchte plötzlich Tadek Hilwicz auf, ein Jude, der für die Gestapo arbeitete. Er nahm alle elf mit zum Judenrat, wo ihre Papiere kontrolliert wurden. So wusste der Judenrat genau, wer gegen ihn agitierte.

Im Juni besuchte Mordechai Anielewicz die Verschwörergruppe und berichtete ihnen, was mit der jüdischen Bevölkerung im General-Gouvernement geschah. Er sagte ihnen, dass Juden in Gaskammern und Krematorien geschickt wurden. Es war notwendig, schnellstens etwas zu unternehmen, um die jüdischen Jugendlichen zu retten und für sie „arische“ Papiere zu organisieren. Es fand auch ein Treffen mit Merin’s Sekretärin, Franya Czarna, statt. Sie wurde um Hilfe gebeten, lehnte aber ab, weil sie die Pläne für zu unsicher hielt. Sie schlug vor, mit dem Judenrat zusammen zu arbeiten, weil nach der Deportation der Kranken, der Alten und der Arbeitsunfähigen die Arbeitsfähigen nicht ermordet würden. Mordechai Anielewicz verließ Sosnovitz deprimiert. Er sah klar, dass die einzige Rettung darin lag, die Jungen zu bewaffnen und mit dem Kampf zu beginnen, da sie nichts zu verlieren hatten. Zwi Dunski stellte den Kontakt zu Gruppen in Bendzin, Chrzanow und Warschau her, und Pläne für die Herstellung falscher Ausweise wurden erwogen. Ina Gelbardt und Hela Szancer fuhren deswegen nach Warschau und Chrzanow ohne den „Judenstern“ zu tragen (was sehr gefährlich war). Aber sie stießen auf viele Schwierigkeiten.

Inzwischen ereignete sich am 12. August 1942 etwas Schreckliches. Alle Juden von Sosnovitz wurden auf dem Sportplatz (Union) zusammengetrieben. Es gab schreckliche Szenen. Menschen verwandelten sich in Tiere, die egoistisch nur um ihr eigenes Leben kämpften. Der Horror erreichte seinen Höhepunkt, als Mütter ihre Kinder von sich warfen, um sich selbst zu retten. Während der andauernden Schießerei wurden viele getötet, besonders Kinder. 8.000 jüdische Einwohner der Stadt wurden (nach Birkenau) deportiert.

Nach diesem Ereignis begann Zwi Dunski ein Doppelspiel mit dem Judenrat. Heimlich hatte er einen Aufruf an die Juden gedruckt, in dem er sie aufforderte, sich nicht für den Arbeitseinsatz zu melden und den Anordnungen des Judenrats nicht zu folgen, weil eine Zusammenarbeit mit der Gestapo zur Folge hätte, dass sie wie Schafe deportiert würden. Plötzlich wurden Aufrufe in Gorecki’s Schuhwerkstatt gefunden, wo Schuhe für die Wehrmacht hergestellt wurden. Heimlich war in jeden fertigen Schuh ein Aufruf in deutscher Sprache an die deutschen Soldaten an der Ostfront gesteckt worden. Sie wurden gedrängt, nicht gegen die zu kämpfen, die die Menschlichkeit von der deutschen Unterdrückung befreien wollten. Es sei eine Vergeudung der Leben der sowjetischen Soldaten und auch ihrer eigenen. Die deutschen Soldaten sollten massenhaft in Gefangenschaft gehen, um so ihr Leben zu retten, denn die Deutschen hätten den Krieg bereits verloren. In der Schuhfabrik herrschte Bestürzung und Panik. Merin rannte herum wie verrückt und drohte mit schweren Sanktionen gegen Dunski und seine Gruppe. Aber es war in Wirklichkeit nicht die Arbeit von Dunski’s Gruppe, sondern von „Gordonia“. Eines von deren Mitgliedern arbeitete in der Fabrik und hatte so die Möglichkeit dazu. Das wusste der Judenrat aber nicht und glaubte, es sei Dunski’s Werk.

Am 17. Oktober 1942 erhielten alle Juden von Sosnovitz ein zweites Flugblatt, in dem sie aufgefordert wurden, sich dem Judenrat und den deutschen Behörden, die tausende von Juden gemordet hatten, zu widersetzen. Jeder Einzelne der jüdischen Bevölkerung wurde dazu aufgerufen, sich eine Waffe zu besorgen und sie im richtigen Moment zu benutzen. Diese Flugblätter waren unterschrieben „Die schwarze Hand“.

Mit Hilfe von Telefonbüchern fanden die Verschwörer Adressen von deutschen Waffen- und Munitionsfabriken. An diese Adressen wurden Drohbriefe gesandt, mit der Aufforderung, nichts mehr zu produzieren, was gegen die Sowjets verwendet würde, weil die Deutschen den Krieg schon verloren hätten.

Zwi Dunski und seine Mitarbeiter schliefen nicht mehr in ihren Wohnungen, sondern jede Nacht woanders. Dann wurde eine Aktion gegen Merin geplant. Zwi Dunski mit zwei Kameraden planten das in der Glowackiegostraße. Sie wollten Merin mit Salzsäure angreifen. Sie warteten auf ihn mehr als zwei Stunden an einem Tor. Schließlich erschien er, aber umgeben von mehr als 20 Polizisten. Der Attentatsplan wurde so im letzten Moment aufgegeben, weil er doch fehlgeschlagen wäre.

Zwi Dunski wurde verfolgt. Er wollte die Gegend schnellstmöglich verlassen. Dazu brauchte er „arische“ Papiere, die ihm von Chrzanow geschickt werden sollten. Danach wollte er zu den Partisanen in den Wäldern. Im Dezember 1942 suchte die jüdische Polizei intensiv nach ihm. Als er nicht daheim gefunden wurde, nahmen sie seine Mutter und seine 14-jährige Schwester fest und schickten sie ins Durchgangslager im Waisenhaus Bendzin. Von dort sollten sie nach Auschwitz geschickt werden, falls Dunski sich nicht ergab. Seine Mutter und Schwester sandten Briefe aus dem Waisenhaus, in denen sie schrieben, dass sie bereit seien, nach Auschwitz zu gehen, damit er seine Arbeit fortsetzen könnte.

Verfolgungen durch die jüdische Polizei hörten nicht auf. Im Januar 1943 verhafteten sie ungefähr 60 Personen, darunter Familienmitglieder Dunski’s und seiner Freunde. Diese wurden einige Tage in Gefängniszellen gesperrt und scharf verhört. Aber sie sagten nichts über die Verstecke der Verschwörer aus.

Anfang Februar 1943 war Dunski auf dem Dachboden von Hela Szancers Wohnung versteckt. Das Haus war von der jüdischen Polizei umstellt. Hela wurde verhaftet, aber Dunski entkam aufs Dach. Ein Polizist sah ihn, und nach einem langen Kampf, in dem ihm seine Kleider vom Leib gerissen wurden, wurde er gefangen genommen. Er wurde auch nach Bendzin ins Waisenhaus geschafft, von wo die Kollaborateure des Judenrats ihn an die Gestapo in Sosnovitz übergaben. Dort wurde er zusammen mit Lipec Minc einige Wochen festgehalten.

In diesem Gefängnis geschahen täglich schreckliche Dinge. Die beiden wurden blutig geschlagen, mit Nadeln gestochen, ihre Haare ausgerissen, glühende Eisen in ihre Rücken gebrannt. Trotz dieser Torturen brach Dunski nicht zusammen. Er war so stark, dass er sogar seinen Mitgefangenen half und ihnen Mut machte. Er forderte seine Kameraden auf, weiter zu kämpfen bis zum Ende und er bat sie, wenn möglich, ihm einen Revolver zu schicken, damit er selbst sein Leben beenden könnte.

Seine Kameraden wollten ihn befreien, aber das war unmöglich, weil er in einer besonders scharf bewachten Zelle gefangen gehalten wurde. Im April 1943 wurde er nach Kattowitz geschafft, wo er als „Kopf des Widerstands gegen das Großdeutsche Reich“ zum Tod am Galgen verurteilt wurde. Lipec Minc wurde nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

So starb im Alter von 21 Jahren der tapfere Kämpfer Zwi Dunski. Er war wie „eine Gräte im Rachen“ des Judenrats. Er tolerierte nicht dessen kriminelle Arbeit, durch die tausende von Juden in das „Maul des Löwen“ geworfen wurden ohne wenigstens eine Gelegenheit zu haben, vor Schmerz zu schreien. - Möge Dunski in Erinnerung bleiben.

So weit Felas Bericht. In den Pinkas haKehillot steht, dass sie mit Anderen Zwi Dunski befreien wollte, aber in der Nacht davor alle Mitglieder von „Schomer Ha Zair“ verhaftet wurden, dabei auch Lipec Minc, Ina Gelbardt und Fela Katz.

Fela hatte einen falschen „arischen“ Pass als sie gefangen wurde. Sie wurde während der Verhöre so sehr mit Eisenstangen geschlagen, dass sie noch monatelang einen schmerzhaften Bluterguss an der Brust hatte. Da sie trotz der Torturen nicht zugab, Fela Katz zu sein, wurde sie schließlich freigelassen.

Wie aus ihrem Bericht hervorgeht, kannte sie Mordechai Anielewicz (geb. 1919), einen der Anführer des Ghetto-Aufstandes in Warschau. Er wurde beim Aufstand am 8. Mai 1943 getötet. Im Dezember 1943 wurde ein von „Schomer Ha Zair“ gegründeter Kibbuz, 10km südlich von Aschkelon, nahe der Grenze zum Gazastreifen, nach ihm „Yad Mordechai“ genannt. Der Kibbutz wurde während des Krieges 1948 von Ägypten angegriffen. Heute gibt es dort ein Denkmal für Anielewicz und ein Museum, das an ihn und an die Schlacht von Yad Mordechai erinnert.

Denkmal für Mordechai Anielewicz in Yad Mordechai, Israel

Am 27. Mai 1941 wurde mein Sohn Ignatz (Jitzchak) im jüdischen Krankenhaus Sosnovitz geboren. Wir waren überglücklich und hofften, dass durch seine Geburt für die ganze Familie bessere Zeiten kommen würden. Fela war vom ersten Moment in das schwarzhaarige Baby verliebt. Eines Tages machten die Nazis eine Razzia. Ich war mit meiner Mutter und unserem Sohn allein zu Hause, während die Männer arbeiteten. Als heftig an unsere Tür geklopft wurde, blieben wir ganz still im hintersten Zimmer. Familie Ptaschnik, unsere christlichen Nachbarn retteten uns, indem sie sagten, wir seien schon abgeholt worden. Dann sahen wir, wie die Nazis Juden aus naheliegenden Häusern auf LKWs abtransportierten.

Ab September 1941 mussten wir anstelle der weißen Binde mit dem Magen David den „Judenstern“ tragen.

Anfang August 1942 forderte der Judenrat alle Juden der Stadt und der Umgebung auf, am 12. August 1942 mit ihren Ausweisen und Arbeitspapieren ins städtische Stadion kommen, um registriert zu werden. Am 11. August hingen in der ganzen Stadt Flugblätter mit der Warnung vor dieser Versammlung. Stattdessen solle sich „Jeder entsprechend seinen Möglichkeiten eine Waffe besorgen, gleich ob Gewehr, Axt, Messer, Schere, Säure oder etwas anderes, was tauglich ist, sich zur Wehr zu setzen“. Doch aus Furcht vor Repressalien strömten die Menschen ins Stadion. Fela berichtete bereits über diesen Tag. Ich erinnere mich, dass es am 12. August besonders heiß war. Unser Sohn war damals ein Jahr alt. Einen ganzen Tag und eine Nacht mussten die mehr als 30.000 Menschen im Stadion sitzen und warten. Es gab weder Essen noch Trinken. Obwohl nur wenige Aufseher mit Hunden uns bewachten, wagte niemand zu fliehen. Es war ein großes Durcheinander. Mein Mann suchte vergeblich seine Eltern und seine Schwester Chawa. Am Morgen wurde selektiert. Unsere Familie konnte nach Hause. Aber viele Leute, auch meine Schwiegereltern wurden ins jüdische Krankenhaus und von dort in ein Vernichtungslager geschafft – vermutlich ins nur ca. 30 km entfernte Auschwitz – wo sie sofort getötet wurden.

1943 wurden die Juden gezwungen, ins Ghetto Srodula, einer Vorstadt von Sosnovitz umzuziehen. Von da an konnte Herr Lamprecht nicht mehr helfen. Im Ghetto wohnten meine Eltern, mein Mann und ich mit unserem Sohn zusammen. Fela war schon im Untergrund. Es gab dauernd Razzien. Wir versteckten uns im Keller oder auf dem Dachboden, dem Kleinen gaben wir das Schlafmittel Luminal, damit er nicht weinen, sondern ruhig schlafen sollte. Ich habe gesehen, wie Kinder an den Füssen gepackt und auf LKW geworfen, und wie Männer am Bart gezerrt wurden. Bei einer dieser Razzien in Srodula wurde Dwora, eine der beiden Zwillingsschwestern meines Mannes, in einem Keller erschossen.

Als Mitte August 1943 fast alle Juden schon aus Srodula deportiert waren, wurde über Lautsprecher bekannt gegeben, dass alle, die sich nicht freiwillig auf dem Platz einfinden, erschossen würden. Um dem zu entgehen, meldeten wir uns. Wir hatten gehört, dass Männer bis 50 Jahre sich für das Arbeitslager Annaberg melden konnten. Dazu wollten wir meinen Vater und meinen Mann überreden. Sie waren aber unsicher, was wirklich dahinter steckte. Nur mein Vater ging dann.

Dies war vermutlich das Bahnhofsgebäude

Wir Verbliebenen wurden unter Bewachung und unter Schlägen zum Bahnhof getrieben. Von dort, hieß es, würden wir in ein Familienlager gebracht. Nach stundenlangem Warten wurden wir aber wieder nach Hause geschickt, weil es keinen Zug gab. Wir sollten am nächsten Morgen wieder kommen. Stattdessen beschlossen wir, uns wieder zu verstecken. Mein Mann verkleidete sich als Transportarbeiter, nahm einen großen Koffer und steckte unseren Sohn hinein. So gingen wir in Richtung Bahnhof. Aber wir bogen in die letzte Ghetto-Straße ab und blieben noch einige Tage dort, bis meine Schwester uns fand, die mit Hela Szancer heimlich ins Ghetto gekommen war. Ihnen übergaben wir unseren Sohn in einem Hauseingang. Die beiden hatten vermutlich einen Wachmann bestochen, so konnten sie mit dem Kleinen das Ghetto verlassen. Fela brachte ihn zur Familie Mateia, einer polnischen Bauernfamilie, die auch gegen Hitler waren. Sie lebten in einem Dorf, einige Kilometer außerhalb der Stadt Myszkow und nahmen unseren Sohn gegen Bezahlung auf.

Jurek 1944 und Frau Mateia (geb. 1888), seine Pflegeoma

Sie gaben ihn als uneheliches Kind ihres Sohnes aus. Weil sie schon einen Ignatz hatten, nannten sie unseren Sohn Jurek und behandelten ihn zwei Jahre lang liebevoll wie ihr eigenes Kind. Es gelang Fela später noch einige Male unter Lebensgefahr, ihn dort zu besuchen. Um auch meine Mutter, meinen Mann und mich aus dem Ghetto zu bringen, bestach sie noch einen Wächter, gab uns etwas Geld und brachte uns drei am nächsten Morgen um vier Uhr zur Straßenbahn. Wir fuhren zu einem von Herrn Lamprecht vorbereiteten Versteck. Es war ein halbfertiges Haus, das zu einer Gärtnerei gehörte. Dort hielten sich schon andere Juden verborgen. Es gab aber auch Nachbarn, die von uns nichts wissen durften. Wir mussten ganz leise sein, denn die Wände waren dünn. Die Gärtnerin, Frau Cicha, organisierte für Alle Essen. Sie besorgte auf unsere Bitte bald für uns drei einen anderen Platz, weil uns der Aufenthalt von sieben oder acht Personen in ihrem Haus zu gefährlich schien. Außenstehende hätten aufmerksam werden können. Wir zogen deshalb in ein Haus von Frau Schitko, das vom Bauamt als unbewohnbar erklärt worden war und das abgerissen werden sollte. Etwa zwei Monate danach wurde Frau Cicha verraten und von der Gestapo mit den verbliebenen sechs versteckten Personen verhaftet. Frau Cicha kam dann ins KZ Ravensbrück, die Versteckten in verschiedene Konzentrationslager. Die Familie Schitko hatte daneben ein neues Haus gebaut. Frau Schitko besorgte Balken und stützte zusammen mit meinem Mann die Decke, damit sie halten sollte. Dort spielte sich unser Leben in einem großen Zimmer ab. Der siebenjährige Sohn Benno meiner erschossenen Schwägerin wurde auch zu uns gebracht. Einmal gingen wir mit Wanda, der Tochter von Frau Schitko sogar ins Kino. Das war ein großes Risiko. Wanda war bei der Gruppe von Polen, die für die Nazis das leerstehende Ghetto ausräumen mussten. Dass sie einmal zufällig in unsere ehemalige Wohnung kam, erkannte sie an unserem Hochzeitsfoto, das in dem Chaos am Boden lag. Sie brachte es uns, obwohl es strengstens verboten war, irgendetwas mitzunehmen.

An Weihnachten kam Fela und erzählte uns, dass ihre Organisation eine Möglichkeit habe, uns auf Schleichwegen nach Ungarn zu bringen. Von dort konnten Menschen mit Hilfe jüdischer Organisationen illegal nach Israel gelangen. Da das ein sehr beschwerlicher, langer Weg, zum Teil zu Fuß über das Tatra-Gebirge von Polen über die Tschechoslowakei sei, wollte sie den kleinen Jurek auf getrenntem Weg mit ihren Genossen nach Ungarn bringen. Die jungen Leute hätten ihn streckenweise tragen können. Frau Schitko riet uns ab von diesem Plan und sagte „was wir essen, werdet auch ihr essen, auch wenn ihr kein Geld mehr habt.“

Wanda Schitko bei ihrem Besuch in Fürth 1987

Anfang Januar 1944 erzählte sie dann meiner Mutter, dass sie als fromme Katholikin vor Weihnachten beichten war und dem Priester auch gestanden hatte, dass sie Juden versteckt hielt. Der hatte ihr geantwortet „Geh nach Hause, G’tt wird dir helfen.“

Am 10. Januar 1944 fuhren meine Mutter, mein Mann, sein Neffe Benno und ich in einer Gruppe von insgesamt acht oder neun Personen mit den Schmugglern im Zug – aber alle in verschiedenen Abteilen – von Sosnovitz nach Bielsko (Bielitz) nahe der tschechischen Grenze. Dort wurden wir, wie von meiner Schwester organisiert, am Bahnhof erwartet. Wir wurden in ein Café geführt, wo wir uns auch wieder getrennt setzten. Dort sollten wir den nächsten Kontaktmann treffen. Doch plötzlich kamen Gestapo-Leute herein: Ausweiskontrolle! Meine Mutter hatte den Ausweis von Frau Schitko, ich den ihrer Tochter Sofia. Aber die Gestapo-Leute sahen die Papiere gar nicht an. Sie wussten, dass wir Juden waren. Unser volksdeutscher Schmuggler hatte uns denunziert. Erst später erfuhr ich, dass der bereits die Gruppe vor uns und auch die Familie Kobylec verraten hatte.

Frau Karolina Kobylec rettete mit ihrer Familie während des Hitler-Regimes unter Lebensgefahr viele Menschen. Sie berichtete 1963 der polnischen Zeitung AZYL: Unsere Familie wohnte in Michalkowic, einem kleinen Dorf in der Nähe von Kattowitz. Mein Mann Piotr war ein tüchtiger Bergarbeiter. Als die Deutschen Oberschlesien besetzten, wurde er bald verdächtigt, gegen Hitler zu sein. Deshalb kamen immer wieder Gestapo-Leute, um zu kontrollieren. Die zwei älteren Söhne Roman und Mieczyslaw, der „Mietek“ genannt wurde, tauchten bald unter und suchten Konrtakt zu jüdischen Widerständlern. Durch Zufall lernten sie Meier kennen, der (unter dem Pseudonym Mietek) in Bendzin illegal tätig war. Erst 1942, als die Juden aus den Ghettos deportiert wurden, weihte Meier den jungen Mietek in Details der Untergrundarbeit ein und bat ihn, Verstecke für Juden zu finden. Meier hatte Kontakte ins Ausland, von wo die Gruppe Unterstützung und auch Geld erhielt. Mietec dachte, der Dachboden des elterlichen Hofes sei ein gutes Versteck, wusste aber nicht, was die Eltern von dieser Idee halten würden. Die Gruppe beschloss daher, als Versuch, zuerst ein junges Mädchen zu bringe, das er den Eltern als seine Freundin vorstellte. Es war Hela Szancer, die nicht jüdisch aussah. Sie blieb über Nacht. Am nächsten Tag kam Mietec mit Fela Katz und bat die Mutter, sie eine Nacht zu behalten. So war die Mutter langsam einverstanden, dass immer mehr Leute gebracht wurden. Frau Kobylec hatte Mitleid und wollte den Verfolgten helfen. Einen Monat lang wusste ihr Mann nichts davon. Die Versteckten verhielten sich geräuschlos auf dem Dachboden. Als Herr Kobylec schließlich doch von der Aktion erfuhr, regte er sich sehr auf weil er das Versteck für viel zu gefährlich hielt und befürchtete, dass es entdeckt werde. Aber auch er wollte helfen. Deshalb baute er mit seinen Söhnen einen Bunker unter der Küche. Seine große Erfahrung als Bergmann half, diesen ganz erträglich zu gestalten. Sie sorgten für Belüftung, die man noch heute am Haus erkennen kann, für elektrisches Licht und sie brachten Schlaf-Pritschen. Meier war besonders tüchtig, er baute eine Warnanlage ein. Wenn oben die Tür zur Küche geöffnet wurde, zeigte eine Lampe im Bunker an, dass ein Fremder im Haus war. Wenn eigene Leute herein kamen, wurde das Signal ausgeschaltet. Der Bunker war für 10 bis 15 Personen geplant, aber zeitweise hielten sich bis zu 30 darin auf. Meier war der Kopf der Widerstandsgruppe. Mietek spielte als Musiker gelegentlich in einem Lokal in einem Erholungsort in den Bergen für Deutsche. Meier organisierte falsche Kennkarten, mit denen er ältere Juden als Touristen in kleine Pensionen schickte, wo sie sicherer waren. Fela, Adele und Hela waren Verbindungsleute. Roman, der andere Sohn der Familie Kobylec war dabei, als der bekannte Kinderarzt Dr. Liebermann aus dem Ghetto Srodula geschmuggelt werden sollte. Das missglückte, Roman und Dr. Liebermann wurden erschossen. Trotzdem half die Familie Kobylec weiter. Als bekannt wurde, dass es möglich war, Menschen über die Berge nach Ungarn, und von dort weiter nach Palästina zu bringen, führte Roman Brzuchanski die erste Gruppe. Immer nachdem gemeldet war, dass eine Gruppe durch gekommen war, machte sich die nächste auf den Weg. So wurden viele Menschen gerettet. Dann wurde aber eine Gruppe verhaftet, bei der auch Mietec war. Brzuchanski, sein Freund, hatte sie alle verraten. Danach schaffte er durch Ausreden, dass sich die nächste Gruppe aufmachte und dann auch verraten wurde. Mietec wurde nach Auschwitz geschafft. Als er einmal in Birkenau ein Konzert gab, erkannte Adele ihn und machte mich mit ihm bekannt. Auch er hat überlebt. Aber die ganze Familie Kobylec musste viel erleiden. Im Dorf machten Gerüchte die Runde, dass sie Juden verstecken und ihnen wurde vorausgesagt, dass sie schließlich zusammen mit den Juden in ihrem Hof aufgehängt würden. Aber sie ließen sich nicht beirren und einige Zeit ging es gut. Nachdem schon viele Juden weg waren, sollte der Bunker aufgegeben werden. Als ein Schaliach aus Wien eines Tages mit Meier verabredet war, hatte der in der Nähe des Hauses das Gefühl, er werde verfolgt. Aber es war zu spät für Umkehr. Tatsächlich waren plötzlich Gestapo-Leute da, schlugen bei der Razzia alles kurz und klein, fanden aber keine Juden. Deshalb drohten sie Frau Kobylec, dass ihr Mann und ihre zwei Söhne, die zu diesem Zeitpunkt in der Grube arbeiteten, erschossen würden, wenn sie nicht aussagt. Sie wurde ins Gefängnis in Myslowiece gebracht und dort sehr misshandelt, blieb aber standhaft und sagte nichts aus. Nach einiger Zeit wurde sie entlassen. Ihr Mann Piotr und die beiden Söhne wurden auch von der Gestapo verhaftet als sie aus der Grube ausfuhren und nach Kattowitz gebracht. Auch sie waren von Roman Brzuchanski verraten worden. Herr Kobylec wurde verurteilt und nach Auschwitz geschafft. Dort traf er seinen Sohn Mietek. Er wurde schwer misshandelt, aber er überlebte. Die ersten Monate nach der Befreiung musste er in verschiedenen Krankenhäusern verbringen, bevor er nach Hause zurück konnte. Auch Mietek und Meier überlebten. Die Familie Kobylec stand nach dem Krieg noch lange mit dankbaren Geretteten in Kontakt.

Uns verhaftete die Gestapo an jenem Januartag 1944 und brachten uns in ihr Quartier. Männer und Frauen wurden getrennt. Sie schlugen meinen Mann blutig, weil er nicht sagen wollte, welches seine Frau war. Da meldete ich mich selbst. Dann wurden wir ins Gefängnis eingeliefert. Wir trugen mehrere Kleidungsstücke übereinander. Einem Wärter gefielen die Reithosen meines Mannes, der gab sie ihm, wodurch der etwas hilfsbereit wurde. Mein Mann meldete sich am folgenden Tag zu Schreinerarbeiten. Er ließ mir durch diesen Wärter mitteilen, dass er dort eine Möglichkeit zur Flucht habe. Ich gab dem Wärter meinen letzten Schmuck. Einige Tage später gab er mir zu verstehen, mein Mann sei „geflogen“ und er sei tot, aber das sei falsch. Kurz danach wurde ich zum Direktor gerufen. Ich behauptete, kein deutsch zu verstehen, um mir durch die Übersetzung etwas Zeit zum Überlegen zu verschaffen. Dann teilte der Direktor mir mit, mein Mann sei auf der Flucht erschossen worden. Ich weinte und jammerte (als ob ich es glaubte). Als mich der Direktor dann fragte, wo er sich denn hätte verstecken wollen, verstand ich endgültig, dass er lebte. Währenddessen hatte sich meine Freundin Adele Gutermann in der Zelle die Pulsadern aufgeschnitten. Sie wurde aber gerettet.

Eine Woche danach, am 18. Januar 1944 wurden wir in einer kleinen Gruppe von sieben Personen per LKW nach Oswiecim – das ist Auschwitz – transportiert; Adele wegen ihrer Verletzung aber mit einem Personenauto. Bei der Ankunft wurden jüdische und christliche Gefangene getrennt. Wir Juden mussten einige Stunden außerhalb des Eingangs unter dem bekannten Schriftzug „Arbeit macht frei“ warten. Häftlinge reichten uns etwas Erbsensuppe durch den Zaun.

Dann kamen zwei Posten mit Schäferhunden und forderten uns auf, weiter zu gehen, ohne uns zu sagen wohin. Nach längerem Fußmarsch kamen wir durch das bekannte Eingangsgebäude, dem Eingang zu Birkenau.

KZ Auschwitz II – Birkenau

Innerhalb war eine breite Straße, links Baracken, abgetrennt durch Stacheldraht. Auch alle Blöcke waren von einander getrennt; innen durch Stacheldraht, außen durch Starkstromdraht. Ganz außen herum waren Wachtürme mit bewaffneten Aufsehern. Wir hatten schreckliche Angst, dass wir sofort „in den Kamin geschickt“ würden.

In Birkenau sahen wir auch die ersten Häftlinge: scheinbar alte Frauen in gestreiften Kleidern, Kopftüchern und Holzschuhen (ohne Mäntel). Sie gingen in Fünfer-Reihen von ihrem Block im Lager zum Zwangsarbeitseinsatz. Da die Frauen älter schienen als meine Mutter, schöpfte ich für sie wieder Hoffnung. Am Eingang des Blocks, dem wir zugeteilt waren, saß eine deutsche Aufseherin im Wärterhäuschen, die uns weg schickte weil sie keinen Platz habe. Das gleiche passierte an den nächsten Blöcken.

Nirgends wurden wir aufgenommen. Schließlich kamen wir zu einem abseits gelegenen, langgestreckten, ebenerdigen Backsteinhaus. Dort waren viele Menschen aller Altersstufen, auch Kinder. Es war sehr laut. Ich fragte einen der Männer vom Sonderkommando nach der Toilette, weil Benno musste. Er schickte uns ins Untergeschoss. Als wir zurückkamen, stand ein großgewachsener Mann – der vielleicht Mengele war - bei unserer Gruppe und fragte die Leute nach Schmuck etc. Wir antworteten, dass uns das schon längst abgenommen wurde. Als er weg war, kamen Jungen aus unserem Nachbarort und erzählten, dass sie in ein Familienlager gebracht würden. Plötzlich war viel Geschrei und Unruhe, jemand rief „schnell, schnell“. Einer vom Sonderkommando packte mich und Adele an der Schulter und zog uns gewaltsam weg von unserer Gruppe und meiner Mutter. Die gab mir noch schnell ihren Schal, damit ich es bei der Arbeit warm haben sollte - sie hatte verstanden, was ihr, dem kleinen Benno und den Anderen bevorstand.

Mir wurde erst später klar, dass dieser Ort das Krematorium war – aus dem ich lebend herauskam! Meine Freundin Adele, unsere Schmugglerin, andere junge Frauen und ich wurden in Fünfer-Reihen zum Baden ins Saunagebäude getrieben. Dort mussten wir uns in der Kälte nackt ausziehen. Wir hatten schon Gerüchte über die Duschen und die Seife gehört und warteten zusammen gekauert die ganze Nacht in Todesangst. Wir standen unter Schock, versuchten aber uns ruhig zu verhalten, um Schläge zu vermeiden. Der Gestank vom Krematorium drang zu uns herein. Alles war unbegreiflich, wir fühlten uns direkt in der Hölle angekommen.

Als nächstes wurden uns nach dem Duschen alle Haare am Körper und am Kopf abrasiert – meine schönen langen Zöpfe! Ich wurde bei Adele’s Anblick von einem hysterischen Lachanfall geschüttelt. Die ganze folgende Nacht mussten wir nackt in einem warmen Raum, vermutlich einem Heizungsraum auf Stufen sitzen. Dort haben wir erfahren, dass die im Krematorium Gebliebenen schon verbrannt wurden. Eine Frau, wenig älter als ich, hatte ihr Kind dort lassen müssen. Auch meine Mutter und der kleine Benno waren bereits tot. Wir alle haben furchtbar geweint.

Am Morgen schickte uns unsere Aufseherin, die selbst Häftling war, in die Kleiderkammer. Jede erhielt ein Hemd, eine unförmige, unten offene Unterhose, weil Winter war, zusätzlich einen Pullover, darüber ein gestreiftes Kleid, ein Kopftuch, Strümpfe ohne Gummi, die immer rutschten, und grobe Holzpantinen. Es gab nur eine Größe, nichts passte. Der Pullover wurde uns bereits im April wieder abgenommen, obwohl es immer noch sehr kalt war. Nach dem Einkleiden mussten wir uns anstellen zum „Registrieren“. Ich gab zwar noch den Namen Sofia Schitko an, aber nach dem Krieg erfuhr ich, dass ich doch unter meinem richtigen Namen eingetragen war. Hier wurden uns die Nummern in den Arm tätowiert – mir die Nummer 74712.

Dann kamen wir für die ersten drei bis vier Wochen in den Quarantäne-Block . Dort gingen im Gegenverkehr die einen rein, daneben die anderen raus. Plötzlich rief jemand meinen Namen. Es war Chawa, die andere Zwillingsschwester meines Mannes. Die war schon länger dort. Wir konnten in Stichworten die wichtigsten Informationen austauschen. Im Quarantäne-Block war Frau Bisam, eine frühere Nachbarin, Block-Älteste. Das war ein Vorteil. Durch ihre Protektion kam ich in die obere der dreistöckigen Pritschen. Jede Pritsche hatte eine Strohunterlage und eine Decke für drei Personen zusammen. In dem Block waren mehrere Hundert Frauen verschiedenster Nationalität untergebracht. Das Gebäude hatte ursprünglich als Pferdestall gedient. Es hatte nur kleine Fenster, aber es gab Heizungsschächte, auf die man sich setzen und etwas aufwärmen konnte. Trotzdem war es bitter kalt. Wir wärmten uns gegenseitig.

Um fünf Uhr früh war Wecken. Im Waschraum gab es ein langes Becken, aber aus den Wasserhähnen kam nur ganz wenig kaltes Wasser. Wir mussten uns mit ein paar Tropfen waschen - ohne Seife, ohne Handtuch. Zum Frühstück gab es lauwarmen, dünnen Malzkaffe und ein kleines Stück Brot mit wenig Marmelade. Danach mussten sich alle vor ihrer Pritsche in Zweier-Reihen zum Zählen aufstellen. Anschließend ging es zum Appellplatz vor unserem Block. Manchmal wurde stundenlang wieder und wieder gezählt, wenn die Zahl nicht stimmte. Stubenmädchen kontrollierten inzwischen, ob jedes Bett ordentlich war, wenn nicht, wurde geschlagen, teilweise zu Tode geprügelt. Nach Ende der Quarantäne-Zeit kamen Adele und ich in einen Arbeits-Block, wo eine slowakische Jüdin Block-Älteste war, eine „Cholera“ (eine Böse). Die Schreiberin war auch Häftling.

Die Latrinen waren ca. 50 m entfernt, sie waren entsetzlich schmutzig. Besonders schlimm war die monatliche Periode, die bei mir nur noch einmal kam. Uns wurde nämlich Brom ins Essen gegeben, dadurch blieb die Periode aus. Die Zustände waren grausam: Kälte, Nässe, Ungeziefer, überall nur Schreien, Jammern, und dazwischen Hundegebell. Ich fühlte mich in der Hölle. Hilflosigkeit, Verzweiflung und Todesangst überwältigten mich.

So sauber waren die Latrinen damals nie!

In unserem Lager waren nur Frauen. Nachdem ich den ersten Appell überstanden hatte, meldete Adele sich freiwillig zur Arbeit in der Munitionsfabrik „Union“ auf dem Lagergelände. Ich meldete mich nicht, weil ich Angst hatte, die schwere Arbeit nicht durchzustehen. Dann wurde ich zum Steine tragen eingeteilt. Das bedeutete, den ganzen Tag lang immer wieder riesige Steine von einer Stelle zu einer anderen zu schaffen. Einige Zeit musste ich mit einer anderen Frau Zement auf einem hölzernen Brett mit vier Griffen schleppen. Das war noch die leichtere Arbeit. Andere Tage mussten wir mit Schaufeln Gräber ausheben. Meine Schwägerin konnte organisieren, dass wir beide zusammen arbeiteten. Allmählich wurden wir Vatikim (Alteingesessene), d.h. wir lernten, wie wir uns vor der Arbeit drücken und wie uns verstecken konnten.

Es war immer noch Winter, als ich zum Zement tragen eingeteilt wurde. Meine Schwägerin wollte es leichter für mich machen, mich beschützen. Eines Tages rutschte sie auf dem glatten Boden aus und brach sich dabei ein Bein. Sie kam aufs Revier - so wurde die Krankenstation genannt, wo es 50 Ärzte für 2000 Patienten gab. Im Block 9 wurden Frauen ohne Betäubung operiert. Chawas Bein wurde gegipst und heilte langsam. Um ihre Chancen bei der Selektion zu verbessern, machte sie sich nützlich, wo immer es möglich war. Ihre Freundin in der Küche bestach die Ärztin, als das Bein fast geheilt war. Doch alles half nichts. Chawa wurde doch ins Krematorium geschickt. Immer nach Selektionen mussten wir in unseren Baracken bleiben, damit wir die Abtransporte nicht merken sollten. Ich habe durch eine Luke trotzdem gesehen, wie meine Schwägerin im LKW abtransportiert wurde. Sie war damals 27 Jahre alt und verheiratet.

Alle wurden wöchentlich in der Sauna desinfiziert. Dabei wurde kontrolliert, ob wir eine Krankheit, wie z.B. Krätze, hatten. Während die Kleider desinfiziert wurden, mussten wir auf der Straße vor den Baracken nackt warten, SS-Männer gafften uns an, es war demütigend. Auf jedem Kleidungsstück war die Nummer angebracht und bei uns Juden ein gelbes Dreieck. Die politischen Häftlinge hatten rote, die Kriminellen grüne, die Asozialen schwarze, die Homosexuellen rosa Dreiecke. Aber alle hatten gleichermaßen Hunger bis zum Umfallen und träumten ständig nur vom Essen. Frau Milstein, die Freundin meiner Schwägerin, die in der Küche arbeitete, gab uns manchmal ein wenig Essbares.

Als die slowakische Schreiberin unseres Blocks, die viel Macht hatte, fragte, wer einen Büstenhalter für sie nähen könne, meldete ich mich, weil ich im Ghetto ein wenig nähen gelernt hatte. Das war mein Glück, es war wie der Haupttreffer in der Lotterie! Ich sollte mich bei ihr in ihrem kleinen Raum melden. Ich habe genäht, sie gab mir Essen und teilte mich nach zwei bis drei Wochen zu besserer Arbeit ein; zuerst in den Kartoffelbunker, der außerhalb des Lagers in der Stadt Auschwitz lag. Das Kommando bestand aus 60-70 Mädchen. Die Kapos waren meist Kriminelle. Wir hatten einen weiblichen, sehr strengen, bösartigen Kapo. Beim Marsch durch die Stadt kommandierte sie uns anstatt „links - rechts“ mit „leks - rechts“. Wir mussten dabei singen – meist deutsche Volkslieder. Die Einwohner schauten durch ihre geschlossenen Fensterläden zu, wie wir beim Marschieren geschlagen wurden. Wir mussten die Kartoffeln aus den Mieten herausholen und versuchten, welche zu stehlen, obwohl das natürlich strengstens verboten war. Nach ein paar Wochen wurde ich versetzt in eine Lagerhalle mit Gemüse und Zuckerrüben. Auch dort nahmen wir uns zum Essen und versuchten, etwas für unsere Mithäftlinge heraus zu schmuggeln. Das war sehr gefährlich, denn auf dem Heimweg wurde kontrolliert. Wer erwischt wurde, wurde blutig, manchmal zu Tode geschlagen. Am Abend nach der Arbeit gab es wieder Appelle. Vor Erschöpfung konnten wir kaum noch stehen. Zum Essen hatten wir nur den Rest unseres Frühstücksbrotes, manchmal mit etwas Margarine. Nur selten bekamen wir wochentags einmal Suppe. An den Sonntagen gab es ein Scheibchen Pferdewurst, mittags Pellkartoffeln und Suppe. Wir wurden klapperdürr, verloren ungefähr die Hälfte unseres ursprünglichen Gewichts. Sonntags hatten wir arbeitsfrei. Da blieben wir in unserem Block, unterhielten uns und sangen. In unserem Block waren Gefangene aus vielen verschiedenen Ländern, aber jeder blieb unter seinesgleichen. An Sonntagen waren Krankenbesuche erlaubt. Mit auf meiner Pritsche schlief eine blonde holländische Tänzerin. Die hatte bis zum Beginn der Verfolgung gar nicht gewusst, dass sie Jüdin war. Ich hatte sie gern und habe um sie geweint, als sie nach kurzer Zeit starb. Danach lernte ich ein Mädchen aus Bialystock kennen. Sie erzählte mir, dass sie jede Nacht heimlich aus der Baracke schleicht und gesehen hat, wie sogar außerhalb des Krematoriums Tote in offenen Erdlöchern verbrannt wurden, die dann sofort aufgefüllt wurden. Im Revier habe ich selbst die nackten Toten am Boden liegen sehen. - Warum ich überlebt habe, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht, weil ich ein Kind und einen Mann hatte und hoffte, sie wieder zu finden.

Im Sommer 1944 wurden die Budapester Juden eingeliefert. Wir bemerkten, dass ihre Köpfe nicht kahl geschoren waren, und dass sie in mehrerlei Hinsicht bevorzugt wurden. Glücklicherweise schickte mich die slowakische Schreiberin zu ihnen, zu einer besseren Arbeit in eine ehemalige Gerberei, die damals als Pferdestall diente.

Es gab einen großen Hof. In einem Haus befand sich die Wäscherei, in einem anderen das Kleiderlager. Wir hatten zwar jeden Tag einen langen Marsch dorthin, aber die Situation war besser. Es gab dort manchmal sogar warmes Wasser um sich zu waschen. Meine Haare, die schon nachgewachsen waren, wurden nicht wieder geschoren.

Die beste Stellung war das Aussortieren der Kleider, Schuhe, Wertgegenstände und Gerätschaften, die man den Deportierten abgenommen hatte, bevor sie ermordet wurden. Das riesige Lager wurde „Kanada“ genannt. Die Mädchen dort trugen rote Kopftücher und hießen deshalb „rote Kanada“. Wir mussten blaue Kopftücher tragen und waren deshalb die „blauen Kanada“. Wenn die „roten Kanada“ vorsortiert hatten, wurde die Kleidung bei uns gelagert, bis es wieder Züge für den Transport nach Deutschland gab. Wir mussten LKWs ausladen und die Sachen in das obere Stockwerk bringen. Im ganzen Komplex gab es massenhaft Ratten. Öfter mussten wir auch Ware zum Güterbahnhof schaffen. Wenn wir zu langsam waren, schlugen uns die Aufseher wahllos, wohin sie gerade trafen. Kapo im Kleiderlager war schon jahrelang eine Madame Ida aus Frankreich, von der gemunkelt wurde, sie habe eine Beziehung zum Oberscharführer. Sie behandelte uns anständig. Ich höre noch jetzt das Lied, das sie oft sang „J’attendrai …“, das auf deutsch als „Komm zurück …“ bekannt war. Ich bot Ida an, für sie einen Büstenhalter zu nähen. Daraus ergab sich eine Verbesserung für mich. Unser Aufpasser war ein Unterscharführer Otto, der nur in betrunkenem Zustand erträglich war und dann oft sein Lieblingslied „Mamma, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen“ sang. In den Ställen arbeiteten auch volksdeutsche, gefangene Männer, die öfter Nazis in die Stadt fuhren und dabei Gelegenheit hatten, Sachen zu „organisieren“. Auch mir gelang es, einige bessere Kleidungsstücke zu „finden“ und unter meinem Obergewand trotz der drohenden schweren Strafen heraus schmuggeln. Damit konnten wir Anderen helfen oder auch etwas Essbares dagegen eintauschen.

Eines Tages bekam ich die Nachricht, dass meine Schwester Fela verhaftet und mit den Budapester Juden nach Birkenau gebracht worden war. Über Handwerker, wie Elektriker, Schreiner konnten wir den Kontakt herstellen. Ich habe ihr, wann immer möglich, Kartoffeln geschickt.

Vor einigen Jahren erfuhr ich, warum ich nach meiner Einlieferung lebend aus dem Krematorium heraus kam. Im jüdischen Erholungsheim in Bad Kissingen traf ich Ella, deren tätowierte Nummer am Arm sich von meiner nur durch die Endziffer unterscheidet. Sie stammte aus Bendzin (Bendsburg), 8 km von Sosnovitz. Dort gab es als Beschützer der Juden Alfred Rossner. Er leitete eine Fabrik, in der Uniformen und Schuhe für die Wehrmacht hergestellt wurden. Herr Rossner erlaubte seinen Beschäftigten, daheim zu wohnen, er richtete eine Krankenstation und auch ein Friseurgeschäft für sie ein. Es gelang ihm, viele vor der Deportation zu retten. Er erreichte sogar, dass bei ihm beschäftigte junge Mädchen in Auschwitz nicht vergast, sondern zu Arbeit eingeteilt wurden. Er war ein kleiner Schindler. Alfred Rossner wurde posthum von Yad Vashem als „Gerechter der Völker“ geehrt. Ella und ihre Schwester Dora hatten bei ihm gearbeitet, beide haben überlebt. Zufällig kamen Adele und ich gleichzeitig mit den Rossner-Mädchen im Krematorium an. Deshalb wurde ich nicht sofort nach der Ankunft vergast.

Eines Tages mussten wir nicht zur Arbeit, sondern auf den Appellplatz vor unserer Baracke. Wir hörten Gerüchte, dass etwas passiert sei, erfuhren aber nicht, was. Kapos mit Hunden liefen hin und her. Auf der Hauptstraße fuhren Autos mit hohen Parteibonzen auf und ab. Die deutschen Aufseherinnen, die im Lager arbeiteten, waren unruhig. Vermutlich wussten sie schon, was wir erst später erfuhren: Mala, ein jüdisches Mädchen aus der Slowakei, war eine Art Chefsekretärin. Sie war sehr beliebt bei hohen Deutschen. Sie und ein polnischer, hochintelligenter Häftling, der auch eine gute Stelle im Büro hatte, waren ineinander verliebt. Sie hatten monatelang geplant, zu fliehen. Er verkleidete sich als Offizier, und gab vor, sie als Häftling irgendwohin zu bringen. Tatsächlich kamen sie durch. Außerhalb des Lagergeländes schwammen sie durch den Fluss Sola. Dadurch verloren die Hunde ihre Witterung. Der junge Mann hatte vorher auch Helfer außerhalb organisiert, die den beiden ein Versteck besorgten. Aber nach einer Woche wurden sie doch gefasst. Während wir Tausende von Frauen stundenlang zum Appell standen, wurde ein Podium errichtet, damit alle von Weitem sehen sollten, was geschehen würde. Mala spuckte einem Offizier ins Gesicht, der sie schrecklich schlug, bevor sie sich mit einer heimlich besorgten Rasierklinge die Pulsadern aufschnitt. Trotzdem wurde auch sie, wie ihr Freund aufgehängt. Danach mussten wir noch weitere 6 - 7 Stunden Appell stehen. Schwache wurden geschlagen, Fallende abgeknallt. Einige fielen vor Erschöpfung tot um. Es war eine schreckliche Aufregung für uns alle, die wir ihnen sehr gewünscht hätten, dass sie durchkommen.

Im Herbst 1944 wurden Fela und ich mit einigen hundert anderen Frauen von Birkenau ins Stammlager Auschwitz I verlegt. Dort wohnten wir in einem der Backsteinhäuser. Die Unterbringung war zwar deutlich menschenwürdiger, aber wir bekamen noch weniger zu essen als vorher. Ganz in der Nähe war das Gebäude, in dem Mengele und seine Helfer die Menschen mit „medizinischen Versuchen“ malträtierten.

Meine Schwester und ich arbeiteten weiter in der Wäscherei und Kleiderkammer außerhalb des Lagers. Eines Tages kam ein Mann und fragte nach den zwei Frauen Katz – das waren wir. Er teilte uns mit, dass unser Vater in Birkenau sei.

KZ Auschwitz I

Wir freuten uns natürlich sehr, dass er noch lebte und hofften von Tag zu Tag auf unsere Rettung. Wenn in der Nähe jetzt öfter Bomben fielen, wünschten wir jedes Mal inständig, dass die Befreiung nahe sei, aber es dauerte noch Monate bis dahin.

Leon Weintraub, mein späterer Schwager, war aus Auschwitz in ein Nebenlager in Oberschlesien verlegt worden, das weniger streng bewacht war. Es gelang ihm, sich mit einem Aufseher zu „arrangieren“, der einen Brief an meinen Mann durchgehen ließ. Die meisten Häftlinge dachten über Fluchtmöglichkeiten nach; das half etwas, die Torturen zu überstehen. Mein Schwager hatte Schaja, einen reichen Juden kennen gelernt, der sein Geld in einem sicheren Versteck liegen hatte. Nachdem Leon die Möglichkeiten erkundet hatte, bat er meinen Mann, mit seinem polnischen Freund Kaszicka zu einer bestimmten Zeit mit Zivilkleidung samt Kopfbedeckung für ihn und einen sehr groß Gewachsenen zu kommen und auch eine Belohnung für den Aufseher mitzubringen. Aber diese Verabredung hatte ein Häftling mitgehört und drohte, die Sache auffliegen zu lassen, wenn er nicht auch bei dieser Aktion befreit würde.

Die Sache klappte, obwohl dieser andere Häftling plötzlich dazu kam. Er war, wie alle, kahl geschoren und riss außerhalb des Lagers meinem Mann seine Mütze vom Kopf. Der hatte zum Glück Haare, so gelang allen die Flucht. Leon blieb bei meinem Mann, Herr Schaja hatte ein anderes Versteck. Nachdem diese Aktion so gut gelungen war, war mein Mann sicher, dass er auch meine Schwester und mich befreien könnte.

Eines Tages nach der Arbeit kam Jemand und fragte nach mir. Ich bekam dann den Auftrag, mich am nächsten Morgen an eine bestimmte Stelle des Zaunes zu stellen. Als ich dort hinkam, stand da eine blonde, gut gekleidete Frau und gab mir eine Streichholzschachtel. Darin war ein Brief von meinem Mann. Dass sie mir diesen Brief brachte, war für sie und für mich gleichermaßen lebensgefährlich. - Ich wusste nur, dass mein Mann aus Bielitz geflohen, aber nicht, was ihm inzwischen passiert war. Den Kontakt hatte Wanda Schitko über ihren deutschen Verlobten hergestellt. Der kam als Zivilarbeiter jeden Tag ins Lager hinein und wieder hinaus. In dem Brief stand: „Ich will Euch retten, an meinem Geburtstag (18. Oktober) wollen wir das tun. Mit mir ist der Verlobte Deiner Schwester Fela“. Ich antwortete, dass Fela, Adele und ich zusammen waren und bat ihn ängstlich, nichts zu riskieren, denn die Pläne waren lebensgefährlich. Schließlich zogen sie sich hin. Im Oktober gab es Gerüchte, dass Häftlinge, die in der Munitionsfabrik „Union“ arbeiteten, etwas planten.

Anfang Januar 1945 wurden zwei Schwestern aus Bendzin beim Stehlen von Munition erwischt. Als sie auf dem Appellplatz vor den Backsteinhäusern aufgehängt wurden, mussten wir zur Abschreckung wieder zuschauen. Das war grausam.

Am 18. Januar hörten wir, dass alle Gehfähigen zu Fuß nach Bergen-Belsen oder Groß-Rosen gehen müssten. Es war bitter kalt in diesen Tagen. Zu unserem Glück waren zu diesem Zeitpunkt die Magazine schon zugänglich. Wir besorgten uns dort warme, neutrale Kleidung, um im Falle unserer Flucht nicht aufzufallen. Als wir in Fünfer-Reihen zum Abmarsch aufgestellt wurden, hüllten wir uns in die ausgeteilten groben Decken, damit die Aufseher die zivilen Kleider nicht sehen sollten. Wir marschierten los mit nur einem Stück Brot und ein paar Stück Würfelzucker als Wegzehrung. Der Würfelzucker gab uns Kraft, die Strapazen zu überstehen.

Es waren Tausende von Gefangenen, die von den Aufsehern mit ihren scharfen Hunden angetrieben wurden. Nachdem wir das Lager hinter uns hatten, haben wir fünf Freundinnen das bekannte Lied „sug nich keinmol dass du gejst den letzten Weg“ gesungen. Wir mussten auch in der Nacht weiter marschieren. Erst vor Tagesanbruch durften wir für einige Stunden in Scheunen rasten - an Schlaf war nicht zu denken. Am Tag sahen wir am Wegesrand viele Tote liegen, die erschossen worden oder an Erschöpfung gestorben waren.

Häftlinge aus dem KZ Dachau auf dem Todesmarsch im April 1945

Heute ist bekannt, dass insgesamt ungefähr 750.000 Häftlinge im Winter 1944/45 auf Todesmärsche geschickt wurden, ca. 66.000 von Auschwitz. Zwischen 250.000 und 375.000 erfroren oder wurden vor den Augen der Bevölkerung ermordet, wenn sie aus Schwäche liegen blieben. Nur wenigen soll, wie uns, die Flucht geglückt sein.

Als wir nach einigen Stunden in einem Dorf rasteten, hatten Frauen Mitleid und gaben uns wenigstens etwas zu trinken. Wir hörten aber auch feindliche Äußerungen gegen uns. Wir fünf wollten etwas Essbares finden – vergebens, aber Adele war danach verschwunden und fehlte nach der zweiten Nacht immer noch. Dann verschwand die Zweite unserer Gruppe. Auch meine Schwester und ich drückten uns blitzschnell in einen Schweinestall und dort hinter die Tür. Nachdem sich der Transport entfernt hatte, und es ruhig wurde, hofften wir, das sei unsere Rettung. Doch nach etwa einer halben Stunde entdeckten uns Aufseher, die nach Entlaufenen suchten. Von ihnen angetrieben erreichten wir im Laufe des Vormittags wieder das Ende des Transports. Als das Gerücht umging, dass wir am nächsten Tag per Bahn zum Ziellager geschafft würden, und es somit keine Möglichkeit zur Flucht mehr gäbe, drängte Fela uns, schnellstens zu flüchten. In einem der nächsten Dörfer sah ich eine schmale Gasse, die ich für geeignet hielt. Auf mein Zeichen gingen wir erst langsamer und stellten uns schließlich an den Wegesrand, als ob wir Dorfbewohner wären. Als der Posten der Nachhut sich nach uns umdrehte und zum Weitergehen aufforderte, begannen wir zu lachen und signalisierten ihm so, dass wir mit dem Transport absolut nichts zu tun hätten. Als alle weg waren, gingen wir das Gässlein entlang aus dem Ort hinaus. - Am Spätnachmittag kamen wir über tief verschneite Wege in ein Dorf, in dem niemand zu sehen war, nur die Hunde bellten. Wir krochen in einen kleinen Holzschuppen, wo wir im Sitzen die Nacht überstanden. Die ganze Zeit hörten wir entfernte Schreie. Als wir am nächsten Morgen den Bauern zum Brunnen gehen hörten, hatten wir große Angst, entdeckt zu werden. Sobald er weg war, schlichen wir in Richtung Straße. Wir waren steif vor Kälte, ich war heiser, Fela hatte eine Ohrenentzündung. Als wir festlich gekleidete Frauen aus der Kirche kommen sahen, wussten wir, dass es Sonntag war. Auf der Hauptstraße kamen uns viele Deutsche auf der Flucht vor den Russen entgegen, die sich nicht vorstellen konnten, warum wir in Richtung Osten liefen. Ungefähr 30 km vor Kattowitz hielten wir einen Lastwagen an. Die Fahrerin hatte verstanden, dass wir entlaufene KZ-Häftlinge waren und brachte uns in ihr Haus, eine Mühle. Da waren viele Menschen, auch deutsche Offiziere, die uns aber zum Glück nicht beachteten. Die Frau gab uns zu trinken und reichlich belegte Brote – eine Luxusmahlzeit für uns! Ihr Mann sagte uns, wann ein Zug nach Kattowitz führe und die beiden kauften uns sogar die Fahrkarten. Am Bahnhof übergab uns der Mühlenbesitzer einem Bekannten, der uns beschützen sollte. Doch schon nach kurzer Fahrt stoppte der Zug – Da machten wir uns mit unserem Beschützer zu Fuß auf den Weg. In einem Ort erreichten wir einen Bus, der uns drei nach Kattowitz mitnahm. In der Stadt fuhr noch die Straßenbahn nach Sosnovitz - das Fahrgeld dafür bekamen wir auch von unserem Beschützer.

Straßenbahn Dombrowa – Sosnovitz - Gleiwitz

An der Haltestelle Daleka, wo wir umsteigen wollten, gab es jedoch an diesem Tag keinen Anschluss mehr. Also liefen wir zu Fuß weiter bis zum Haus von Frau Schitko. Die war außer sich vor Freude, als sie uns lebend sah. In ihrem Haus hatten mein Mann und mein Schwager versteckt überlebt. Als wir ankamen, waren beide aber unterwegs, um anderen zu helfen. Mein Mann hatte aus einem alten Gummiabsatz einen Stempel gebastelt, mit dem er falsche Papiere herstellte. Das nötige Geld gab der befreite Herr Schaja. - Unser Wiedersehen kann man nicht mit Worten beschreiben. Tagelang konnten wir Schwestern ausruhen, Frau Schitko gab uns zu essen. Wir drei Frauen schliefen im Ehebett der Schitkos, die beiden Männer auf einer Couch am Fußende.

Als am 27. Januar der Schwiegersohn von Frau Schitko mit der Mitteilung ins Haus stürmte „auf der Eisenhütte weht eine rote Fahne!“, fiel mein Mann vor Freude und Erleichterung in Ohnmacht. An diesem Tag kamen viele andere, bisher versteckte Juden zu uns, denen mein Mann und mein Schwager Leon das Geld gegeben hatten, um ihr Versteck zu bezahlen. Doch dann liefen sie zur Hauptstraße, um die Russen bei ihrem Einmarsch zu bejubeln. Die „Sieger“ wirkten erschöpft und müde, wir feierten sie freudig als unsere Befreier. Einer der Soldaten sah jüdisch aus, doch als ich ihn darauf ansprach, reagierte er nicht. Erst später kam er zurück und erzählte uns, dass er tatsächlich Jude sei, aber Angst vor antisemitischen russischen Kameraden habe. Das überraschte uns und machte uns sehr nachdenklich.

Die Russen marschierten weiter Richtung Westen. Bei uns war ein Herr Rottmann, der auch versteckt gewesen war. Er schlug vor, dass wir zur ehemaligen Wohnung seiner Eltern in einem großen, modernen Haus in einem guten Viertel im Stadtzentrum gehen sollten. Dort hatten deutsche Beamte gewohnt, die jetzt vermutlich verschwunden seien. Herr Rottmann fand die Wohnung frei, und auch im 3. Stock gab es eine freie Wohnung, in die wir einzogen. Die Räume waren komplett eingerichtet, sogar einige Lebensmittel, wie Reis, Gries, Marmelade fanden sich. Leon bekam in einer noch besseren Gegend in einem luxuriösen Haus eine herrliche Wohnung.

Von links: Unbekannte, ich, Babka, Tadek, Rosa Katz und ihr Sohn Jurek (1955)

In der ersten Zeit hatten wir keine Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. Erst im März konnten wir unser Kind von der Pflegeoma, unserer „Babka“ abholen. Der Kleine erinnerte sich überhaupt nicht mehr an uns und wollte nicht mit uns kommen. Nach einigen Tagen beschloss Tadek, der ältere Sohn dieser Familie, unser Kind zu uns zu begleiten und blieb, bis es sich eingewöhnt hatte.

Unser Sohn Jurek und ich 1946 in Sosnovitz

Eines Tages kam die auf dem Todesmarsch verschwundene Adele Gutermann mit ihrer kleinen Nichte bei uns an, sie hatte überlebt. Die Nichte war, wie unser Sohn, bei christlichen Menschen versteckt gewesen. Die beiden Kinder waren glücklich zusammen. Es dauerte allerdings einige Zeit, bis sie ihre christlichen Gewohnheiten wieder ablegten.

Babka kam wiederholt mit dem Zug, um uns in Sosnovitz zu besuchen. Sie brachte immer reichlich Butter, Käse und Eier für unsere ganze Familie mit. Wir liebten sie, wie unsere eigene Großmutter. Diese Freundschaft bestand bis zu ihrem Tod.

Jurek (vor dem rechten Fenster) bei der Beerdigung von Babka

Mein Schwager Leon Weintraub gründete mit Anderen nach Erlaubnis des russischen Kommandanten die jüdische Gemeinde Sosnovitz neu. Der Kommandant war auch Jude. Da natürlich kaum jüdische Kinder überlebt hatten, wollte er unbedingt unseren Sohn Jurek kennen lernen, den er dann mit Süßigkeiten beschenkte. Jurek lernte von seinem 6. Lebensjahr an in der neu gegründeten jüdischen Schule jüdische Religion und Hebräisch.

Nach 2 bis 3 Monaten zog eine Frau mit Kind in die kleine Wohnung über uns. Sie hatte auch Auschwitz überlebt, war aber nach der Befreiung in Deutschland gewesen. Durch die Kinder bekamen wir Kontakt miteinander. Sie erzählte mir, dass sie in der amerikanischen Zone in einem Krankenhaus einen Herrn Katz aus Sosnovitz getroffen habe, dem man ein Auge ausgeschlagen hatte. Uns war sofort klar, dass dieser Patient mein Vater war. Es gelang uns bald, ihn ausfindig zu machen. Bevor er im Hochsommer 1945 zu uns kam, benachrichtigte er uns nach seiner Ankunft in Sosnovitz, dass er in einer halben Stunde bei uns sein werde. Er ging nämlich erst noch zum Friseur. Bei unserem Wiedersehen trug er außer der Augenklappe seine Häftlingskleidung mit der Genugtuung, überlebt zu haben.

Auch mein Vater berichtete bald nach 1945 bei Yad Vashem über seine Erlebnisse während der Verfolgungszeit. Er schrieb:

Bei der letzten Deportation am 2. August 1943 wurde ich zusammen mit 150-200 Menschen ins Durchgangslager Sosnovitz verschleppt. Unsere Gruppe wurde von dort weiter nach Annaberg gebracht. Dort blieb ich 14 Tage, während andere nach sieben Tagen anders wohin gebracht wurden. Unseren Transport hatte das Büro des Sonderbeauftragten (Schmelt-Organisation) organisiert. Im Durchgangslager machte Kuczynski [Friedrich Kuczynski, geb. 1914, Referat für jüdische Angelegenheiten, hingerichtet in Polen 1949] mit seiner Bande eine Selektion und ein Teil von uns (ca. 160 Personen) wurde weggeschickt. Während meines Aufenthalts benutzte Kuczynski zusammen mit (Messner?) Koffer, um von Juden gestohlenes Eigentum zu verschicken. Ich packte in seinem Auftrag Silberfuchs-Pelze, Textilien etc. und adressierte die Pakete - alle an Privat-Adressen in Deutschland! Weniger wertvolle Dinge, wie Töpfe, getragene Schuhe etc. packten wir für Annaberg. Während der ganzen 14 Tage packten wir und wurden nicht fertig. Wir luden die Waren auf mehr als ein Dutzend Eisenbahnwaggons für Annaberg.

Als ich in Annaberg ankam, waren dort ca. 300 Personen, meist Männer. Ungefähr 100 arbeiteten in den Schneiderei- und Schuhmacher-Werkstätten. Die übrigen arbeiteten als Schwerarbeiter in den Steinbrüchen. Während der drei Monate, die ich in Annaberg war, verhungerten 96 Personen nach Angabe des Judenältesten Herrn Glaftnian, der die Kartei führte. Zusammen mit unserem Transport waren ca. 500 Personen in Annaberg, nämlich Juden von Zaglebie, Holland und Frankreich. Die Juden aus dem Westen erzählten uns, dass sie unterwegs (in Cosel) selektiert und ein Teil von ihnen in Zwangsarbeitslager geschickt worden sei. Tote Juden wurden von Mitgefangenen in einem Friedhof begraben, den sie selbst nahe dem Lager angelegt hatten. Sie begruben die Toten mit ihren Kleidern und Decken.

Von Annaberg schickte uns (der SS-Mann) Lindner als Gruppe von 100-120 Männern nach Landeshut (24 km von Jelena Gora). Das war damals ein Zwangsarbeitslager. Später waren 600-800 Männer in diesem Lager; Juden von Zaglebie und einige von Holland und Frankreich. Die Gefangenen arbeiteten in Steinbrüchen, andere beim Abbruch der Weberei Kuhl & Söhne. Auf dem Gelände errichteten wir Flugzeug- und Munitionsfabriken.

In Landeshut war außerdem ein Arbeitslager für Polen. Unser Lager befand sich in einem ca. 12 Meter hohen Backsteinbau, der an einem Hang lag und über 120 steinerne Treppen erreicht wurde. Die Steinbrüche waren 5 entfernt, die Fabriken lagen näher, ca. 1,5 km vom Lager. Wir schliefen auf vierstöckigen Bretter-Betten mit Decken.

Im Lager war es schrecklich schmutzig. Fliegen und Läuse quälten uns. Der „Waschraum“ war sehr klein, 2 x 3 Meter. Jeden Samstag wurden wir zu je zehn gleichzeitig in diesen dreckigen Waschraum gezwungen. Wir mussten das Wasser selbst pumpen oder die 120 Treppen hoch schleppen. Wegen des Drecks begann eine Typhus-Epidemie. Infizierte lagen zusammen mit den Gesunden. Das dauerte zwei Monate, jeden Tag starben Leute.

Als ich nach Landeshut kam, gab es dort noch kein Lager für Juden. 20 Juden von Zaglebie wohnten und arbeiteten im dortigen Gefängnis. Das Lager wurde erst gegründet, als wir ankamen. Unsere Mitgefangenen waren von Lagern in Unterschlesien gekommen. Unser Lager war mit Stacheldraht eingezäunt, das Polen-Lager war nicht einbezogen. Im Winter mussten wir während Schneestürmen und Frost in den Nächten den Zugang zum Lager und die Treppen säubern. Menschen starben an Erschöpfung und Herzschwäche, manche fielen tot auf die Stufen. Die Deutschen hetzten Hunde auf uns, wenn wir von der Arbeit zurück die Treppen heraufkamen. Wir mussten vor fünf Uhr früh, wenn es im Winter noch dunkel war, an unserem Arbeitsplatz sein. Wer nicht schnell genug die Treppen hinunter konnte, wurde von den Deutschen hinunter geworfen. Viele starben auf diesen Treppen. Wir arbeiteten von fünf Uhr früh bis fünf Uhr nachmittags. Selbst am Sonntag mussten die arbeiten, die die Waggons zu be- und entladen hatten.

Wir bekamen 200 Gramm Brot und einen Liter bitteren, schwarzen Kaffe täglich. Als Abendessen (nach der Arbeit) einen Liter bitterer Suppe aus Blättern, manchmal mit einem Löffel Marmelade. Der Lager-Aufseher schlug uns mit einer Reitpeitsche. Manchmal durchsuchten uns die Deutschen nach der Arbeit. Einige Male fanden sie ein paar Kartoffeln bei den Gefangenen. Als Strafe wurden die einige Stunden lang an den Händen aufgehängt oder mit kaltem, schmutzigem Wasser übergossen.

Im April 1944 liquidierte Lindner das Lager Landeshut wegen des Schmutzes und des weitverbreiteten Typhus. Die Gefangenen wurden in verschiedene Lager geschafft. Ich kam mit einer Gruppe von ca. 200 Personen wieder nach Annaberg. Dort blieb ich dann bis September 1944. Ich arbeitete als Hilfspfleger im Lager-Hospital. Der Arzt (Dr. Prace) war ein Jude aus Wien.

Im Lager waren damals ca. 1.000 jüdische Männer und weniger als 100 Frauen. Die Gefangenen beseitigten die Ruinen der großen, bombardierten Fabrik in Oderthal, ca. 10 km entfernt vom Lager. Die Gefangenen arbeiteten in zwei Schichten. Sie wurden mit Bussen dorthin gebracht, manchmal mussten sie aber zu Fuß gehen. Es gab wegen des wiederholten Bombardements viele Verletzte.

Wegen des Hungers und des Hygienemangels brach auch hier eine Typhus- Epidemie aus. Eine besondere Krankenstube wurde im Lager eingerichtet, immer voll von Menschen, die an Typhus, Ruhr etc. litten. In der Lager-Apotheke gab es nichts außer Aspirin und Kohle. Täglich wurden Leichen aus der Krankenstube getragen.

Lindner inspizierte unser Lager täglich mehrmals. Wenn Jemand nicht gesund war, hetzte Lindner seinen Hund auf ihn und schlug ihn mit der Reitpeitsche. Andere Male befahl er seinem Chauffeur (Tammer) oder dem jüdischen Gruppenführer, das Opfer zu schlagen.

In den ersten Septembertagen 1944, an einem Samstagmorgen um 11.50 befahl Lindner allen Gefangenen, gesund oder krank, sich auf dem Appellplatz zu versammeln. Dort teilte er uns mit, dass wir uns in den nächsten zehn Minuten vorbereiten sollten, das Lager zu verlassen. Er sagte uns, wir würden zu einem neuen Lager gehen, wo wir alles bekommen würden, was wir wollten. Pünktlich um zwölf Uhr wurden wir auf Fahrzeuge geladen und weggebracht. Ungefähr 50-60 Personen blieben im Lager zurück: Lindner begleitete uns von Annaberg über Oderthal, wo dort Arbeitende zu uns stießen. Sie hatten nichts bei sich, weil sie von dieser Abreise nichts gewusst hatten. Die Deutschen brachten die ganze Gruppe zu einer nahen Bahnstation. Dort warteten wir fünf Stunden auf dem Boden liegend und von Deutschen bewacht. Später luden sie uns in den Zug und brachten uns, eine Gruppe von ca. 600 Personen, nach Birkenau.

Im Konzentrationslager Birkenau blieb ich, bis ich am 18. Januar 1945 nach Oranienburg evakuiert wurde. Von dort wurden wir weiter nach Flossenbürg geschickt. Am 23. April 1945 befreite mich die amerikanische Armee in Amberg (Oberpfalz) während einer weiteren Evakuierung.

Von den sieben Geschwistern meines Vaters hatten nur die beiden Brüder, Chil und Abraham überlebt, allerdings ohne ihre Frauen und Kinder. Auch sie kamen nach der Befreiung für einige Zeit zu uns. Mein Vater und die beiden Onkel gründeten neue Familien und lebten später in Israel.

Frymeta Katz-Kleiner     -     Chil Katz     -     Abraham Katz

Mein Bruder Jitzchak und seine damalige Freundin, seine spätere Frau Rosa, hatten sich über Ostpolen nach Stanislaw in Russland durchgeschlagen. Dort wurden sie getrennt. Erst nach Jahren fanden sie sich in Taschkent wieder, wo sie 1945 heirateten, und ihre Tochter Halina geboren wurde. Jitzchak schloss dort sein Studium der Wasserwirtschaft mit der Promotion ab. Im Spätsommer 1946 kamen die drei nach einer monatelangen Reise, teils in Viehwaggons, zu uns.

Fela und Leon Weintraub heirateten und wohnten anfangs in Sosnovitz, wo ihre Tochter Sara geboren wurde. 1950 machten sie Alija und lebten dann in Tel Aviv.

Fela und Leon Weintraub nach 1945

Rosa war eines von acht Kindern der Eheleute Spira. Ihr Vater, Isser Spira, war Hutmacher. Er war ein aufrechter und frommer Mann. Trotz des Versammlungs-verbots der Nazis und der damit verbundenen Lebensgefahr lud er zu den Hohen Feiertagen im Jahr 1940 Menschen zum Gottesdienst in seinem Haus ein. Rosas Mutter Riwka war verwandt mit meinem Mann.

Ehepaar Isser und Riwka Spira mit ihren Kindern (v. links) Jankel, Malka, Abram Pinchas, Chaja Hella und Mendus

Nur die beiden Töchter Rosa und Chaja Hella haben überlebt. Rosa war schon in die Sowjetunion geflohen, als das obige Foto 1941/42 entstand.

Jitzchak und Rosa Katz mit ihren Kindern Jurek und Halina (ca. 1968)

Wir drei Geschwister freuten uns sehr, dass wir lebten und wieder zusammen waren, haben aber oft voll Trauer über unsere Mutter gesprochen. Sie war eine liebevolle, aufopfernde Mutter, eine echte jiddische Mamme. Sie war immer für ihre drei Kinder da. Später, als unser Sohn Jitzchak klein war, verwöhnte sie ihn und sagte bei allem, was er verlangte, „geb ihm“. Das waren mit seine ersten Worte, als er sprechen lernte. Meine Freundinnen beneideten mich um meine Mutter.

Außer ihr wurden ihre beiden Brüder Salman und Jitzchak Genzel, sowie ihre beiden Schwestern Malka Friedmann und Faigla Chaba mit ihren Familien ermordet.

Salman Genzel -
Jitzchak Genzel mit Familie -
Faigla und Abraham Chaba mit ihren Kindern Mosche und Schia

Die Familie Genzel stammte aus dem Städtchen Koszice bei Krakau. Der Vater, Jitzchak Genzel, starb 1904 oder 1905 sehr jung während seine Frau Marmel mit dem fünften Kind schwanger war. Die Kinder wurden danach auf Onkel und Tanten verteilt, seine Witwe nach einiger Zeit wieder verheiratet.

Meine Mutter wurde als kleines Mädchen von Josef Genzel, dem kinderlosen Bruder ihres Vaters aufgenommen. Der war Gutsbesitzer in Wieliczka. Seine Frau Sure Scheindel war eine böse Frau. Als er es nicht mehr mit ihr ertragen konnte, emigrierte er allein nach Amerika, wurde dort Mitbegründer der Firma Manischewitz und schickte ihr Geld und einen Get (Scheidebrief). Meine Mutter, ihre beiden Schwestern und ein Bruder wurden nach Dzialoszyce verheiratet, wo auch die große Familie meines Vaters lebte. Alle Geschwister meiner Mutter hatten Familie – aber von ihnen blieben nur Abraham Chaba und Schulim Friedmann am Leben.

Abraham Chaba und ich 1973   -   Abraham Chaba   -   Schir haSchirim auf einem Ei

Abraham Chaba ging nach Israel. Bis ins hohe Alter schuf er wahre Kunstwerke in Mikrographie. Außer religiösen Texten, wie Schir haSchirim (das Hohelied Salomos) schrieb er z.B. die „Magna Charta“ als Geschenk für Königin Elisabeth II. von England auf ein Gänse-Ei. Mit seiner zweiten Ehefrau gründete er in Jerusalem ein kleines Museum für seine Werke.

Schulim Friedmann zu Besuch in Fürth

Schulim Friedmann war ein Sohn von Malka, der nächstjüngeren Schwester meiner Mutter. Er hat das Lager Plaszow überlebt. Während der Verfolgungszeit und bis 1961 hatten wir uns nicht gesehen. Schulim ging schon ziemlich bald wegen schwerer Depressionen ins jüdische Altersheim München. Wir hatten Kontakt bis er dort im Jahr 2006 starb.

Die Eltern meines Mannes, Abraham und Sara, geborene Baitel wurden, wie ihre beiden Zwillingstöchter, Opfer der Shoah.

Meine Schwiegermutter Sara Feder

Seit 1928 hatte die Familie Goldmann im selben Haus wie wir in Sosnovitz gewohnt. Wir waren befreundet. Lea Goldmann und ich waren etwas mollig, deshalb machten wir öfter gemeinsame Spaziergänge. Auf dem Rückweg sabotierten wir allerdings unsere eigenen Bemühungen oft mit Süßigkeiten. Mein Vater vermittelte über einen Cousin den Schidduch (die Ehe) zwischen Lea und Adam Leczyki. Nachdem Lea auch Auschwitz überlebt, dort aber ihren Mann und das gemeinsame Kind Jurek verloren hatte, heirateten sie und mein Vater 1946.

Lea und Leon Katz

Ich zog mit meiner Familie 1955 von Sosnovitz nach Kattowitz, wo wir die nächsten Jahre verbrachten. Vater und Lea blieben noch drei Jahre in Sosnovitz. In dieser Zeit hatten wir fast täglich Kontakt.

Fela und Leon Weintraub lebten seit 1950 mit ihrer Tochter Sara in Israel. Leon eröffnete ein Lebensmittelgeschäft in Tel Aviv. Nach einigen Jahren übernahm er dann aber die Vertretung von Rosenthal und verkaufte Porzellan an der Allenby- Road. Sara wuchs zu einem bildhübschen Mädchen heran und hatte viele Verehrer.

Sara um 1968   -   Sara, wie sie jetzt aussieht

Als sie den Führerschein neu hatte, fuhr sie mich einmal nach Nethanya. Nach dem Jurastudium wurde sie Staatsanwältin und arbeitete an internationalen Fällen. Bei ihrer Ernennung zur Richterin wurde sie sogar vom Staatspräsidenten Israels empfangen. Sie war bereits berufstätig, als sie und Israel Dotan heirateten. Ihr 1975 geborener Sohn Jedidja ist inzwischen verheiratet und hat Zwillinge, ein Jungen und ein Mädchen. Auch Saras jüngere Tochter Wered ist inzwischen Mutter einer Tochter. Wie schade, dass meine Schwester Fela das nicht mehr erleben konnte.

1958 gingen auch mein Vater und Lea nach Israel. Die beiden vertrugen aber das Klima dort nicht. Weil ein Verwandter von Leas erstem Mann in Fürth wohnte, zogen sie 1960 nach Fürth. Bei diesem Umzug, der von israelischer Seite nicht erlaubt war, half ihnen Gisela von Lamprecht aus Sosnovitz, die zu dieser Zeit in Bonn lebte.

Die wieder gegründete Kultusgemeinde Fürth hatte ca. 200 Mitglieder. Rabbiner David Spiro und Jean Mandel waren die prägenden Personen, Hugo Oppenheimer war Sekretär. Fritz Mailänder, Jakob Salzträger, die Herren Rosenfeld, Grubner und später auch mein Mann engagierten sich ebenfalls. Die Gottesdienste fanden, wie auch heute noch, in der ehemaligen Waisenschul statt. Es gab einen jüdischen Kindergarten unter der Leitung von Frau Rosenfeld, und was sonst für ein frommes jüdisches Leben nötig war. Jedes Jahr wurden vor Pessach Mazzot gebacken.

Vor dem Mazzebacken (v. li.): Jitzchak Rosenfeld, Rabbiner David Spiro, Jean Mandel, Herr Fischer, Fritz Mailänder, Hermann Grubner und Jakob Salzträger (ca. 1970)

Die ehemalige Waisenschul - jetzige Gemeinde-Synagoge nach ihrer Renovierung 2011

Eines Tages bekam ich die Nachricht, dass mein Vater in Fürth schwer erkrankt sei, und ich ausnahmsweise ein Kurzzeit-Visum bekäme, um ihn zu besuchen. Das Wiedersehen war freudig, obwohl es mir schwer fiel, nach Deutschland, ins Land der Täter zu reisen. Vater war damals fast 70 Jahre alt und hatte ein Glasauge. Er wohnte im ehemaligen jüdischen Hospital und war in der jüdischen Gemeinde Fürth so hochgeschätzt, dass er jahrelang Mitglied des Vorstandes war.

Das ehemalige jüdische Hospital in Fürth, Theaterstraße 36 (2019)

Während ich ihn sechs Wochen pflegte, kam Schulim zu unserer großen Freude aus München zu Besuch, wir hatten ein herzliches Verhältnis. Während meines Besuchs lernte ich auch Herrn Mandels Frau Adele kennen, die damals im Gundelfinger-Haus am Bahnhofplatz 11 wohnten. Frau Mandel stammte auch aus Polen und redete mir sehr zu, mit meiner Familie nach Fürth zu ziehen. Mein Vater und Hermann Grubner fuhren im Auftrag von Herrn Mandel häufig wegen Entschädigungsangelegenheiten, „Wiedergutmachung“ genannt, nach München. Als ich einmal mitfuhr, wurde ich Hans Maier, dem damaligen Präsidenten des Entschädigungs-Amtes vorgestellt. Auch er ermutigte mich, nach Deutschland zu kommen und sagte mir, dass ich Anspruch auf „Wiedergutmachung“ hätte. Als es meinem Vater besser ging, fuhr ich wieder nach Hause ins kommunistische Kattowitz. Den Pass musste ich wieder bei der Meldebehörde abgeben. Was da geschah, begründete in mir den festen Entschluss, Polen zu verlassen: Ich wurde circa zwei Stunden lang vor laufendem Mikrofon verhört, was ich gesehen hätte, wen ich getroffen hätte, und über Landsmannschaften der Flüchtlinge. Ich war extrem eingeschüchtert und verängstigt. An diesem Tag teilte ich meinem Mann mit, dass ich nicht bleiben wolle. Wir hatten schon 1956 einen Antrag auf Ausreise nach Israel gestellt, der war jedoch abgelehnt worden. Bis 1962/63 stellen wir noch mehrmals Anträge. Schließlich erhielten wir die Genehmigung für Israel. In Wirklichkeit planten wir aber, zu meinem Vater zu fahren. Auf dem notwendigen Zwischenstopp in Wien erwartete uns Herr Melnik, ein guter Freund meines Vaters. Er begleitete uns in die deutsche Botschaft. Da unsere Reisepässe nur kurz gültig waren, erhielten wir aber keine Einreise-Erlaubnis und in Österreich durften wir auch nur ein paar Tage bleiben. Es folgte eine nervenaufreibende Prozedur. Bei einer Kontrolle im Hotel nach wenigen Tagen, es war um den 18. November, wurde uns gesagt, dass wir ausreisen müssten. Herr Melnik riet uns, nach Salzburg zu fahren. Dort würden er und Herr Oppenheimer uns treffen. Als wir hörten, dass Taxifahrer Menschen über die grüne Grenze bringen, verabredeten wir uns mit einem von ihnen. Die Herren Melnik und Oppenheimer passierten die Grenze offiziell und erwarteten uns in einem Wirtshaus auf der deutschen Seite. Bei strömendem Regen fuhren wir abends in die Nähe der Grenze. Dort erklärte uns der Taxifahrer, wie wir zu Fuß einen kleinen Fluss an einer flachen Stelle überqueren könnten. Wir fanden aber diese Stelle nicht und waren verzweifelt, als wir durchnässt und von Lehm verschmiert allein im Finsteren herumirrten. Mein Mann hatte erst drei Wochen zuvor den Gips nach einem Beinbruch abgenommen bekommen. Er hatte nun starke Schmerzen. Schließlich gingen wir trotz großer Angst in das Wirtshaus nahe der Grenze auf österreichischer Seite. Erst nachdem wir uns notdürftig gereinigt und Tee bestellt hatten, bemerkten wir einige Grenzpolizisten mit Schäferhunden im Gastraum. Schäferhunde wecken bis heute fürchterliche Erinnerungen in mir! Als bald darauf die von uns sehnsüchtig erwarteten Fürther Herren auftauchten, schien die Sonne aufzugehen. Herr Melnik strömte Optimismus aus und tröstete uns, bevor er uns in seinem Auto zurück nach Salzburg brachte. Am dortigen Taxistand lauschten viele Leute den Nachrichten eines Radios über die Ermordung von Präsident John F. Kennedy – es war der 21. November 1963. Wegen der allgemeinen Aufregung darüber wollte uns keiner fahren. Es gelang uns, zu viert ein Hotel zu finden. Es war Freitagnachmittag. Die Herren Melnik und Oppenheimer beschlossen, zur jüdischen Gemeinde zu gehen. Dort wurde uns für Samstag 9.00 Uhr früh ein jüdischer Herr vermittelt, der uns zu einem zuverlässigen Bauern-Ehepaar geleitete, die uns über einen Berg außerhalb Salzburgs auf die deutsche Seite führten, wo schon ein Taxi uns erwartete. Das fuhr uns dann in das Café in Bad Reichenhall, in dem wir die Herren Melnik und Oppenheimer wieder trafen. Von da fuhren wir dann zu viert nach Fürth.

Mein Vater wartete am Fenster auf uns. Schon während meines Aufenthaltes ein halbes Jahr vorher hatten wir eine Wohnung im selben Haus im Parterre links gemietet und natürlich auch bezahlt. Diese Wohnung war zwar schrecklich einfach im Vergleich zu unserer herrlichen Wohnung in Kattowitz, aber das nahmen wir in Kauf. So blieb ich in Fürth. Mein Vater war überglücklich.

Mit Jitzchak und Rosa konnten wir schon bald nach Kriegsende über den polnischen Hausmeister unserer Sosnovitzer Dienstwohnung wieder Kontakt herstellen. Sie kamen 1946 mit ihrem Baby Halina zu uns. Ihr Sohn Jurek wurde 1950 in Sosnovitz geboren. 1969 zogen sie auch nach Fürth. Aber schon nach einem Jahr bekam Jitzchak in Stuttgart eine gute Stellung, die seiner Qualifikation entsprach. Er starb 1975 dort nach dem dritten Herzinfarkt. Seinem Wunsch entsprechend, wurde er neben unserem, 1967 verstorbenen Vater in Fürth beerdigt. Rosa zog vor einigen Jahren zu ihrer Tochter Halina nach Berlin. Rosas jüngere Schwester Hella (geb. ca. 1925) hatte ein Arbeitslager überlebt. Sie heiratete Chaim Bugajski. Das Paar lebte einige Zeit in Mittenwald, wo ihr Sohn Isser geboren wurde. Später ging die Familie zurück nach Polen und machte 1949 Alija.

Halina Katz-Eringa   -   Hella Spira-Bugajski   -   Chaim Bugajski

Unser Sohn Jurek und Miriam heirateten 1960 in Kattowitz. Dort wurde im Dezember desselben Jahres ihr Sohn Adam und 1962 ihr Sohn Pjotr Zwi geboren. Die junge Familie machte 1969 Alija. Nachdem die Söhne erwachsen, und mein Mann 1987 verstorben war, zogen Jurek und Miriam nach Fürth. Adam und seine Frau Iris leben mit ihren Kindern Doron und Dana in Nethanya, Pjotr Zwi lebt in Amsterdam.

Unser Sohn Jurek und seine Frau Miriam (ca. 1966)

Neben allem Schrecklichen habe ich auch Glück gehabt im Leben. In Fürth habe ich viele gute Menschen getroffen, deshalb fühle ich mich hier zu Hause.

Februar/Mai 2011